Pianist Jan Lisiecki im Gespräch über Ziele, Chancen und das richtige Gegengewicht im Leben als Künstler
Die meisten meiner Träume sind auf sehr natürliche Art wahr geworden!
Du hattest schon mit 15 Jahren Deinen internationalen Durchbruch mit Deinem ersten Chopin-Album und Deinem Vertrag bei der Deutschen Grammophon. Jetzt bist Du mit Mitte 20 schon längst kein Nachwuchstalent mehr, sondern gehörst zur ersten Riege – ist das ein schwerer Übergang?
Ich hatte nie wirklich das Bedürfnis, da eine Wandlung zu vollziehen – ich mache das, was ich von Anfang an getan habe, nämlich auf dem mir höchstmöglichen Niveau zu spielen und die Musik, die ich liebe, mit dem Publikum zu teilen, während ich ständig an den mir gegebenen Grundlagen arbeite, um mein Spiel besser zu machen. Das ist eine lebenslange Aufgabe für einen Musiker, einen Künstler – Perfektion kann man nicht erreichen, also arbeitet man kontinuierlich an dem, was man hat, und genau das tue ich.
Du hast schon so viel in Deiner Karriere erreicht – was sind Deine Ziele für die Zukunft?
Ich habe immer so sehr wie möglich im Hier und Jetzt gelebt, dem heutigen Tag verschrieben und verpflichtet. Ich bin mir natürlich der Zukunft bewusst, auch der Vergangenheit, aber ich versuche, im gegenwärtigen Moment alles zu geben, was ich kann, auch wenn ich heute auf der Bühne vor Publikum spiele. Ich denke, das ist die beste Art zu leben. Das Gleiche gilt für Träume – die meisten meiner Träume sind auf sehr natürliche, ungezwungene Weise wahr geworden. Bevor ich den Traum träumen konnte, ist er schon eingetreten. Gleichzeitig musste ich auch viele der Chancen, die sich mir boten, mit beiden Händen ergreifen und mich ihnen voll und ganz widmen, was eine sehr schwierige Aufgabe ist. Manchmal muss man unglaublich hart für sein eigenes Ziel arbeiten, weil man der Einzige ist, der es verwirklichen kann.
Ein gutes Beispiel ist meine Live-Aufnahme aller fünf Beethoven-Konzerte mit der Academy of St Martin in the Fields. Das war nicht geplant, vorhergesehen oder gar erträumt. Ich bekam die Chance sehr kurzfristig, und es war eine unglaubliche Herausforderung, die ich in wenigen Wochen vorbereiten musste, statt – was normal wäre – in Jahren.
Und sind Deine Träume nach zwei Jahren Pandemie noch die gleichen?
Die Pandemie hat wohl den meisten von uns vor Augen geführt, was uns im Leben wichtig ist. Mir wurde erstmal klar, dass ich sehr gerne auf der Bühne stehe. Was für eine dämliche Antwort! Obwohl … wenn man hundert Konzerte im Jahr spielt, ist man so in seine Arbeit vertieft und ihr verschrieben, dass man sich kaum die Zeit nimmt, einen Schritt zurückzutreten und zu überlegen: Moment mal, ist das wirklich, was ich mag und was ich mit meinem Leben anfangen möchte? Die Pandemie und die damit einhergehenden Konzertabsagen haben mich deutlich sehen lassen, dass ich tatsächlich gerne auf der Bühne stehe – ich vermisse das Publikum, ich vermisse die Erfahrung, Musik zu teilen. In diesem Sinne hat mich die Pandemie verändert. Gleichzeitig wurde mir aber auch klar, dass ich viele Dinge im Leben genieße, die nichts mit meinem derzeitigen Lebensstil zu tun haben, damit, um die Welt zu reisen und ein Konzert nach dem anderen zu geben. Ich bin zum Beispiel sehr gerne Zuhause und gehe mit meinem Vater campen; und genau das möchte ich auch weiterhin tun. Ohne große Veränderungen in meinem Leben ankündigen zu wollen, bin ich mir jetzt ganz darüber im Klaren, dass ich beide Seiten meines Lebens sehr schätze.
Du spielst sehr viel Chopin, es gibt eine tolle Live-Aufnahme mit allen 5 Beethoven-Konzerten von Dir, Du spielst Grieg, Schumann, Rachmaninov, Mendelssohn … – Hast Du einen Lieblingskomponisten?
Ich bin wirklich sehr schlecht darin, Favoriten zu benennen. Das klingt nach einem Klischee, aber wenn ich einen bestimmten Komponisten oder ein bestimmtes Stück spiele, dann muss dieses Stück das sein, was ich atme und lebe, und deshalb ist es in dem Moment mein liebstes. Manchmal vermisst man, etwas Bestimmtes zu spielen. Wenn man zum Beispiel Beethovens drittes Klavierkonzert eine Weile nicht mehr gespielt hat, denkt man vielleicht: „Oh, ich würde gerne mal wieder das Orchester in der Coda nach der Kadenz hören.“ Aber einen Lieblingskomponisten zu nennen ist für mich unmöglich. Und bei 34 Orchesterwerken in meinem Repertoire und weiteren, die ständig hinzukommen, wird es wirklich nie langweilig. Man findet immer wieder neue Lieblingsstücke.
Vergangene Veranstaltung
Gibt es einen Komponisten, den Du niemals wagen würdest im Konzert zu spielen? Oder den Du gerne mal spielen würdest, es aber noch nie getan hast?
Es gibt sehr viele Werke, die ich noch nicht gespielt habe und gerne spielen würde. Ich habe eher Freude daran, mich mit Komponisten, ihrer Musik und Sprache auseinanderzusetzen, die vielleicht noch nicht die meine ist, um sie mir dann im Laufe von Wochen, Monaten oder vielleicht sogar Jahren zu eigen zu machen. Das jüngste Beispiel dafür ist Prokofjew, eine Musik, zu der ich keine besondere Affinität oder Verbindung hatte, bis ich anfing sie zu spielen. Jetzt genieße ich sie unglaublich. Es gibt wirklich keinen Komponisten, dem ich bisher begegnet bin und von dem ich sagen würde, dass ich ihn auf keinen Fall öffentlich spielen würde.
Wahrscheinlich hast Du schon in jedem Konzertsaal auf der Welt gespielt … was verbindest Du mit der Kölner Philharmonie?
Die Kölner Philharmonie ist für mich ein sehr besonderer Saal. Ich habe dort unzählige Male gespielt, und jedes Mal habe ich einerseits das Gefühl, dass die letzten Reihen oben unglaublich weit weg sind. Andererseits spürt man aber eine bemerkenswerte Präsenz des Publikums in dieser kreisförmigen Architektur – alle sind mit dir gemeinsam da, bei dir und hören zu. Ich spiele dort immer sehr gerne.
Mir gefallen Deine Natur- und Reisefotos auf Instagram sehr gut – magst Du diesen direkten Kontakt mit Deinen Fans?
Vielen Dank! Ich führe alle meine Kanäle selbst und versuche dabei, ein Gleichgewicht zwischen dem Jan auf der Bühne und dem Jan abseits der Bühne zu finden. Ich lebe definitiv nicht auf oder für Social Media, es ist eine Ergänzung. Mein Instagram, die Bilder von der Natur und von meinen Reisen – so würde ich wahrscheinlich auch meinen Kanal betreiben, wenn ich kein Pianist wäre. Dann gibt es natürlich noch den Teil, den ich beruflich erfüllen muss. Ich schätze die Verbindung, die ich damit zu den Menschen knüpfen kann, die nicht immer Konzerte besuchen können, aber ich brauche den direkten Kontakt mit den Fans nicht unbedingt. Es ist eine großartige Methode, um die Leute über das Geschehen zu informiert zu halten, aber – und das gilt jetzt für meine Freunde – ich ziehe den persönlichen Kontakt generell dem Internet oder den sozialen Medien vor.